Nein, hier zitiert niemand eine ganze Buchseite, schon gar nicht ich...
ZitatHätte Pasics Regierung eine Politik verfolgt, die eine innenpolitische Konsolidierung anstrebte, und die irredentistische Bewegung, die für ihre eigene Autorität eine ebenso große Gefahr darstellte wie für den Frieden Europas, im Keim erstickt, dann hätten die jungen Männer womöglich niemals die Drina überquert. Man hätte Wien rechtzeitig eine eindeutigere Warnung zukommen lassen können, und die Schüsse wären niemals gefallen. Die ineinander verflochtenen Verpflichtungen, die letztlich das katastrophale Resultat von 1914 hervorbrachten, waren keine langfristigen Merkmale des europäischen Systems, sondern die Konsequenz zahlreicher kurzfristiger Nachbesserungen, die ihrerseits wiederum ein Indiz dafür waren, wie rasch sich die Beziehungen unter den Mächten entwickelten.
Und wenn der Auslöser nicht gezündet worden wäre, dann wäre an die Stelle der kommenden Ereignisse, die anno 1914 Geschichte wurden, eine andere Zukunft getreten - durchaus denkbar, dass die Triple Entente dann die Lösung der Balkankrise nicht überdauert und dass die englisch-deutsche Entspannung eine substanziellere Form angenommen hätte. Paradoxerweise trug ausgerechnet die Plausibilität der >>zweiten Zukunft<< dazu bei, die Wahrscheinlichkeit der ersten Variante zu steigern: Gerade um zu verhindern, dass Russland ausscherte, und um die vollste Unterstützung zu erhalten, erhöhte Frankreich nämlich den Druck auf St. Petersburg. Wäre das Geflecht der Bündnisse verlässlicher und beständiger erschienen, dann hätten sich zentrale Entscheidungsträger womöglich nicht so stark unter Druck gefühlt. Umgekehrt hatten auch die Momente der Entspannung, die für die letzten Jahre vor dem Krieg so charakteristisch waren, einen widersinnigen Effekt: Indem sie einen Kontinentalkrieg scheinbar ganz an den Rand des Horizonts der Wahrscheinlichkeit zurückdrängten, verführten sie die Hauptakteure dazu, die mit ihren Interventionen verbundenen Risiken zu unterschätzen. Nicht zuletzt aus diesem Grund schien die Gefahr eines Konflikts zwischen den großen Bündnisblöcken genau in dem Moment zu schwinden, als die Kette der Ereignisse, die letztlich Europa in einen Krieg stürzte, in Gang gesetzt wurde.
/- Christopher Clark: Die Schlafwandler - Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog